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Nachruf auf Dr. Ilja Seifert „Und viele Brücken sind stufig – dennoch war ich da“

Am 10. September verstarb Dr. Ilja Seifert, Vorsitzender des ABiD-Instituts Behinderung & Partizipation e.V. (IB&P), im Alter von 71 Jahren. Das ist ein sehr schmerzlicher Verlust. Wir trauern gemeinsam mit seiner Mutter Elvira, seinen Söhnen Jan Honza und Michael, seinen drei Enkeln und zahlreichen weiteren Familienangehörigen, mit vielen Freundinnen und Freunden, vor allem aus der nationalen und internationalen Behindertenbewegung, aus der Politik und der Partei DIE LINKE.

Ilja Seifert, geboren am 6. Mai 1951 in Berlin, hatte im August 1967 einen Badeunfall und war seitdem im Halswirbelbereich querschnittsgelähmt. Nach seinem Germanistik-Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin, das er 1974 als Diplom-Germanist abschloss und seiner Promotion zum Dr. phil. an der Akademie der Wissenschaften der DDR war er in der Kulturarbeit tätig.

In der Wendezeit gehörte er zu den Begründern des Berliner Behindertenverbandes und des Behindertenverbandes der DDR, der nach dem 3. Oktober 1990 als Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ e.V. (ABiD) weiter arbeitete. Viele Jahre stand er an der Spitze beider Verbände – Selbstbestimmung und Würde war für ihn Programm. Ilja Seifert vertrat den ABiD lange Zeit im Deutschen Behindertenrat (DBR) und war vom DBR ins Europäische Behindertenforum (EDF) entsandt. Zahlreiche öffentliche Protestaktionen von Menschen mit Behinderungen sind mit seinem Namen verbunden, zum Beispiel die Demonstrationen am 5. Mai in Berlin zu dem seit 1992 stattfindenden Europäischen Protesttag für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Er war auch aktiv an dem Weg beteiligt, der am 15. November 1994 zur Aufnahme des Verbots der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes führte. Sein gesamtes politisches und gesellschaftliches Streben war von dem Ziel erfüllt, dieses Benachteiligungsverbot mit Leben zu erfüllen und umzusetzen.

Auf Initiative von Ilja Seifert gründete sich am 5. April 2018 an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin das ABiD-Institut Behinderung & Partizipation e.V. (IB&P), zu dessen Vorsitzenden er gewählt wurde. Sein Ziel war es, mit dem IB&P die Selbstvertretungs- und Selbsthilfefunktionen des ABiD durch praxisbasierte wissenschaftliche Analysen auf eine fundierte Grundlage zu stellen, zu erweitern und wirksamer zu gestalten. Das IB&P betrachtet sich als Teil der Disability Studies Community in Deutschland; seine Spezifik besteht darin, getreu dem Motto „Nichts über uns ohne uns!“ aus der Betroffenenperspektive zu agieren. Davon zeugen die unter Federführung von Ilja Seifert erarbeitete Machbarkeitsstudie für die Tätigkeit eines solchen Instituts, die ABiD-Studie „Alt werden mit Behinderung – Mittendrin ein Leben lang“ sowie seine Mitwirkung an der 2021 fertiggestellten Ausstellung „überZEUGEN: Geschichten von Menschen mit Behinderungen aus Deutschland und der Ukraine“.

An der Spitze des ABiD und des IB&P engagierte sich Ilja Seifert über 15 Jahre lang für die Kooperation mit Behindertenorganisationen in den zwölf Nachfolge-Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Entstanden ist eine in Deutschland einmalige internationale Zusammenarbeit mit zahlreichen Veranstaltungen und Projekten, bei denen der Erfahrungsaustausch zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Mittelpunkt steht. Dabei war Ilja Seifert auch Brückenbauer zwischen den Behindertenorganisationen in Osteuropa sowie Zentralasien und der Europäischen Union.

Ilja Seifert wurde am 19. März 1990 über die Liste der PDS Berlin in die Volkskammer der DDR gewählt. Als einer von 144 Volkskammerabgeordneten wurde er am 3. Oktober, mit dem Tag der Deutschen Einheit, in den Bundestag (11. Wahlperiode) kooptiert und war damit auch der erste im Rollstuhl sitzende Bundestagsabgeordnete im gesamtdeutschen Parlament. Für insgesamt vier weitere Wahlperioden (1990-1994, 1998-2002, 2005-2013) wurde er als Abgeordneter der PDS bzw. der LINKEN in den Bundestag gewählt. Ilja Seifert war behindertenpolitischer Sprecher seiner Fraktion und in verschiedenen Ausschüssen tätig. Zu seinen Themen gehörten auch die Bau- und Wohnungspolitik, die Tourismuspolitik, die Sozial,- Gesundheits- und Pflegepolitik sowie der Sport. Nachhaltig wirkt zum Beispiel sein Engagement für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, für ein Bundesteilhabegesetz und eine wirkliche Pflegeabsicherung oder für die Contergan-Opfer. Diese Vielfalt wird auch in seinen 243 Bundestagsreden sowie in ungezählten parlamentarischen Initiativen (Gesetzentwürfe, Anträge, Anfragen) deutlich.

Auch in seiner langjährigen ehrenamtlichen Tätigkeit im Parteivorstand der PDS bzw. der LINKEN stand der Kampf um soziale Gerechtigkeit und eine inklusive Gesellschaft im Mittelpunkt.

Ilja Seifert hat zahlreiche Gedichte und Essays geschrieben und veröffentlicht. Sie sind tiefgründig, humorvoll, politisch oder auch erotisch, und sie fanden nicht nur auf Lesungen, sondern auch auf Veranstaltungen, die er als Behindertenaktivist oder als Bundestagsabgeordneter bestritt, großen Anklang. Mehrere Bücher gab er in den 90er Jahren gemeinsam mit seinem Freund Christian Schröder heraus, mit dem er auch ab 1995 als „Sachverständigenbüro für barrierefreies Leben Seifert & Schröder“ u.a. Kommunen zu Fragen der Barrierefreiheit beriet. Zu erwähnen sind auch seine Lehraufträge an der Humboldt-Universität Berlin, der Karls-Universität in Prag und an der Hochschule Zittau-Görlitz.

Am 20. September 2010 erhielt Ilja Seifert den Elke-Bartz-Preis. Mit dieser erstmals verliehenen Auszeichnung wollte das Forum selbstbestimmter Assistenz (ForseA) behinderter Menschen im Sinne seiner 2008 verstorbenen Gründungsvorsitzenden Menschen ehren, die sich um das selbstbestimmte Leben behinderter Menschen verdient gemacht haben. Zahlreiche Gratulanten aus der emanzipatorischen Behindertenbewegung, aus Verwaltung und Politik waren zur Preisverleihung im Berliner Kleisthaus erschienen, unter ihnen auch Gregor Gysi, der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag. Gysi würdigte in seinem Grußwort das beharrliche Eintreten Ilja Seiferts für eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, von ihm habe er selbst wie auch die Mitglieder seiner Fraktion viel gelernt. „Gegen das Behindert-Werden haben wir gelernt, uns zu wehren. Wir haben gelernt, Barrieren nicht als gottgegeben hinzunehmen. Wir haben gelernt, sie zu erkennen, ihre Hinderlichkeit zu benennen und ihre Beseitigung anzuregen. Barrieren aller Art. Bauliche und kommunikative. Nicht zuletzt Barrieren in den Köpfen. „Behinderungen sind Menschenrechtsfragen. Es geht darum, alle Facetten unserer Persönlichkeit frei entfalten zu können“, betonte Ilja Seifert nach der Übergabe des Preises.

Im März 2018 schlug der ABiD dem Bundespräsidenten vor, Dr. Ilja Seifert den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland zu verleihen. Am 3. Juni 2019 erreichte den ABiD ein Schreiben des Regierenden Bürgermeisters von Berlin in dem es hieß: „Auch wenn die erbrachten Leistungen sicherlich Anerkennung verdienen, ist es dem Herrn Bundespräsidenten – auch im Hinblick auf ähnlich gelagerte Fälle – nicht möglich, Herrn Seifert mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland zu ehren.“ Von diesem Vorgang hat Ilja nie erfahren – Ehrungen waren für ihn, abgesehen vom Elke-Bartz-Preis, nicht wichtig.

Ilja Seifert hinterlässt neben seinen Bundestagsreden sowie Beiträgen und Interviews in der STÜTZE, der Berliner Behindertenzeitung sowie anderen Medien zahlreiche Publikationen:

  • „Schonzeit gab es nicht“ Eine Dokumentation zur Entstehung des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland e.V. „Für Selbstbestimmung und Würde“ (ABiD), Kolog-Verlag, 1990
  • „Alle Könige sind gleich“ Eine Dokumentation zur Entstehung des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland e.V. „Für Selbstbestimmung und Würde“ (ABiD), Band 2, Kolog-Verlag, 1991
  • „Versorgt bis zur Unmündigkeit“ Eine Dokumentation zur Entstehung des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland e.V. „Für Selbstbestimmung und Würde“ (ABiD), Band 3, Kolog-Verlag, 1991
  • „Sieger lernen nicht“, Lyrik von Ilja Seifert und „alle sind alle“ von Christian Schröder, ein Wendebuch, 1992
  • „Sintflut verhindern“, Lyrik von Ilja Seifert und „mauergewöhnt“ von Christian Schröder, ein NachWendeBuch, 1995
  • „MANCHE DENKEN SOGAR SELBST“ von Ilja Seifert und „SCHON DREIMAL KRÄHTE DER HAHN“ von Christian Schröder, WENDENACHLESE, Spotless Verlag 1998
  • „Irrgarten zerstören“, ein AbWendeBüchlein von Ilja Seifert & „scheinen will mir Zukunft“, ein AbWendeBüchlein von Christian Schröder, Spotless-Verlag 1999
  • „Ich riech‘ nun mal nach Mensch“, Sonette & andere UnArtigkeiten, 2001
  • „Lob der Unvollkommenheit“, Essayistische Betrachtungen zu Biomedizin, Gentechnik, Menschenbild und Gesellschaftskonzeption, Karl Dietz Verlag Berlin / Rosa-Luxemburg-Stiftung, Manuskripte 45, 2003
  • „Also: Laßt mich irren“ Lyrik, deutscher lyrik verlag, 2006
  • „Also: Laßt mich irren“ Lyrik. Neue erweiterte Ausgabe, deutscher lyrik verlag, 2010
  • „… UND AUCH DIE EROTIK“, Gedichte in deutscher und russischer Sprache, deutscher lyrik verlag, 2013
  • „Vorurteil, Du bist willkommen“, Gedichte, deutscher lyrik verlag, 2017
  • „Sterben wie im Märchen“, Ethik zwischen Embryos und Einäscherung – Essays aus 10 Jahren, Karin Fischer Verlag 2019
  • Lob des CHAOS“, Gedichte, deutscher lyrik verlag, 2020

In all diesen Publikationen befinden sich geistige Schätze, die noch nicht umfassend gehoben und erschlossen wurden. Das betrifft sowohl die Geschichte der Behindertenbewegung in der DDR sowie im wiedervereinigten Deutschland als auch zahlreiche behindertenpolitische Themen. Ilja Seifert hat die Behindertenbewegung und die Behindertenpolitik in Deutschland in den vergangenen drei Jahrzehnten maßgeblich mit geprägt. Das ABiD-Institut Behinderung & Partizipation (IB&P) wird dieses Erbe bewahren und in seiner weiteren Tätigkeit nutzen.

Lieber Ilja, Du hast gekämpft, gelebt und geliebt. Nun wirst Du uns sehr fehlen.

Für den Vorstand des IB&P
André Nowak
stellv. Vorsitzender
Wegbegleiter von Ilja Seifert seit 1990

 

Nachruf auf Dr. Ilja Seifert als PDF in Deutsch

Nachruf auf Dr. Ilja Seifert als PDF in Russisch

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